Veranstaltungen
Symposium
Mythen in der Staatspolitik
27.11.2004:Datum
Aula des Mathematischen Institutes, Komaba-Campus, Universität Tokyo:Ort
DESK:Veranstalter
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Moderator
Ryuichiro Usui (Leiter von DESK)
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- Sektion 1: Mythen
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Heroisierung - Mythisierung - Remythisierung
Alfred Ebenbauer (Universität Wien)
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Mythos und Tradition bei Kafka
Gerhard Schepers (International Chiristian University)
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Kultur und Tradition
Harald Kleinschmidt (DESK-Gastprofessor)
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- Sektion 2: Staatspolitik
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Ernst Cassirer und der Mythos des Staates
Dirk Lüddecke (Universität München)
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Der Mythos der Nation und das Erbe des Nationalismus
Hartmut Behr (Universität Tsukuba)
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Elemente des Mythos im politischen Liberalismus
Clemens Kauffmann (Universität Erlangen)
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- Schlussdiskussion
Am 27. November 2004 fand im großen Hörsaal des Mathematischen Instituts der Graduate School of Arts and Sciences der Universität Tokyo ein internationales und transdisziplinäres Symposium zu dem Thema "Mythen in der Staatspolitik" statt. Das Symposium wurde von Professor Ryuichiro Usui, dem Direktor von DESK, geleitet. Das Symposium bestand aus zwei Sektionen mit jeweils drei Vorträgen. Die Vortragenden waren Alfred Ebenbauer, Literaturwissenschaftler und Germanist an der Universität Wien, Gerhard Schepers, Literatur- und Religionswissenschaftler an der International Christian University Tokyo, Harald Kleinschmidt, Historiker an der Universität Tsukuba, Dirk Lüddecke, Philosoph und Politikwissenschaftler an der Universität München, Hartmut Behr, Politikwissenschaftler an den Universitäten Jena und Tsukuba, sowie Clemens Kauffmann, Politikwissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg. Trotz des hohen Abstraktionsniveaus des Themas und der es behandelnden Vorträge, die auf Deutsch gehalten und simultan ins Japanische übersetzt wurden, fanden sich etwa 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein. Im Anschluss an die Sektionen ergab sich eine lebhafte und kontrovers geführte Diskussion, die die Aktualität des Themas dokumentierte.
Die Aktualität des Themas gründet in der in Europa wie auch in Japan stattfindenden Debatte um den Einfluss von Mythen auf die Gestaltung innen- wie außenpolitischer Entscheidungsprozesse. In Europa stehen sich ein mythenfreundliches und ein mythenfeindliches Lager gegenüber, vertreten auf der einen Seite durch den in München lehrenden Philosophen Rėmi Brague und den in Wien lehrenden Historiker Wolfgang Schmale, die die Sorge umtreibt, europäische, insbesondere EU-Politik leide an einem für den Bestand staatlicher und EU-Institutionen gefährlichen Mythendefizit. Auf der anderen Seite tritt eine Gruppe von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler um Beate Kohler-Koch (Mannheim) und Harald Müller (Frankfurt) mit dem Anspruch auf, dem von ihnen diagnostizierten Mythenglauben im politischen Entscheiden auf nationaler und internationaler Ebene durch quantifizierende Forschung den Garaus zu machen. Zur Aktualität der Mythendebatte in Japan bedarf es keiner Erläuterung.
In den sechs Vorträgen wurde sofort deutlich, dass in den fachwissenschaftlichen wie öffentlich-politischen Diskursen unterschiedliche, ja gegensätzliche Mythenbegriffe zur Anwendung kommen, deren Verschiedenheit bisher kaum thematisiert wurde. Grob gesagt, gilt auf der einen, literatur- und religionswissenschaftlichen Seite Mythos als bestimmte Form der fiktionalen oder ätiologischen Erzählung, die als solche sich moralischer Beurteilung entzieht, aber zu moralischen Urteilen über die erzählten Handlungen und dargestellten Personen Anlass geben und Werte vermitteln soll. Auf der anderen Seite gilt in den Sozialwissenschaften Mythos oft als Bericht, der sich der Kritik nach dem discrimen veri ac falsi entzieht, somit gleichgesetzt werden kann mit Lüge und eine Realität vorzugaukeln scheint, die bei kritischer Prüfung zerfällt. Der bisherige Streit zwischen Mythenfreunden und Mythenfeinden fand also implizit zwischen Anhängern des eher literatur- und religionswissenschaftlichen und Befürwortern des sozialwissenschaftlichen Mythenbegriffs statt. Das Symposium vermittelte die Einsicht, dass die Unterschiedlichkeit der Begriffe im transdisziplinären Gespräch über Mythen thematisiert werden sollte.
Aber das Symposium brachte nicht nur Aufschlüsse über Unterschiede und Gegensätze des Wortgebrauchs, sondern auch Neues zur Rolle des Mythos in Literatur, Geschichte und Politik. In der ersten Sektion über den Begriff des Mythos eröffnete Alfred Ebenbauer den Vortragsreigen mit einem Bericht über "Mythisierung - Remythisierung - Demythisierung. König Artus auf dem Weg vom Keltenmythos zur Fantasy Novel". Er bot einen Überblick über die Artus-Traditionen des Mittelalters und der Neuzeit und erbrachte den Nachweis, dass die Figur des König Artus das Ergebnis einer zum Zweck der Herrschaftslegitimation verwendeten Produktion neuer, von der altgriechischen Tradition getrennter Mythen im Mittelalter war. Ebenbauer wandte sich scharf gegen die von Hans-Robert Jauß vorgetragene These von der "babylonischen Gefangenschaft des Mythos im Mittelalter und stellte klar, dass im Mittelalter von einer allgemeinen, im Christentum gründenden Mythenfeindlichkeit nicht die Rede sein könne. Eine bisweilen artikulierte Abneigung gegen Traditionen von griechischen Göttermythen sei nicht gleichzusetzen mit dem Versuch, den Mythos insgesamt unterdrücken zu wollen. Ebenbauer veranschaulichte an vielen Beispielen, dass die herrschaftslegitimatorische Relevanz des Mythos vom König Artus über das Mittelalter hinaus bis in die unmittelbare Gegenwart andauert.
Gerhard Schepers ging dem Verhältnis von "Mythos und Tradition bei Kafka" nach und versuchte, die wenigen ausdrücklichen Verwendungen der Wörter "Tradition" und "Überlieferung" mit Hinweisen auf Mythen in Kafkas Werk zu verbinden. Kafka bezog sich hauptsächlich auf Erinnerungen an griechische Mythen, insbesondere von Prometheus. Schepers regte an, Kafkas Verhältnis zum Mythos religionshistorisch zu deuten als Versuch, "auf eine prämythische Zeit" zurückzuweisen, eine Zeit, bevor man begann, über Naturphänomene "nachzudenken und sie einzuordnen". Somit wäre Kafkas Werk zu lesen als Dokument einer kulturkritischen Position, die gegen Rationalismus und Individualismus gekehrt war und damit, so Schepers, Elementen japanischer Kultur nahestand.
Harald Kleinschmidt schloss die erste Sektion ab mit einem Plädoyer für die Verwendung des literaturwissenschaftlichen Mythosbegriffs in der Geschichtswissenschaft. Mythos als Form der Erzählung stehe im Kontext eines spezifischen Vergangenheitsbewusstseins. In Europa deute dieses den Mythos, indem es ihn mit Tradition und der Erinnerung an fernvergangene Zeiten verknüpfe. Dort bestimme sich Mythos als Narration über eine Gegenwelt gegen die Analysen der Naturwissenschaft. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit würden Brüche postuliert. Aber außerhalb Europas sei Mythos keineswegs nur Relikt fernvergangener Zeiten, sondern könne Ideen, Riten und andere Machtmittel bereitstellen, die aktuellen Prozessen einer politisch geforderten oder geförderten Akkulturation entgegenwirken, gegebenenfalls sogar mit militärischer Gewalt. Die Anerkennung der Kulturalität des Umgangs mit dem Mythos sei Voraussetzung für interkulturelles Verstehen und damit für jede interkulturelle Kommunikation.
"Ernst Cassirer und der Mythos des Staates" war das Thema des ersten Vortrags in der anschließenden Sektion über Staatspolitik. Dirk Lüddecke unterzog Cassirers Buch mit dem Titel "Der Mythos des Staates" einer ans Grundsätzliche gehenden Kritik. Erst als Cassirer dieses Werk veröffentlichte, habe in Deutschland "die destruktive Macht des politischen Mythos offen zutage" gelegen, während in den 1920er Jahren die "politische Virulenz" des Mythos als einer symbolischen Form für Cassirer nicht offensichtlich gewesen sei. Cassirer habe auf den Unterschied der politischen Wirkkraft von Mythen mit dem Postulat reagiert, es habe im politischen Denken des 20. Jahrhunderts ein radikaler Wechsel mit katastrophalen Folgen stattgefunden. Diesen Wechsel habe, so Lüddecke, Cassirer mit der Formel vom "Mythos des Staates" bezeichnet, mit der er "ein Überwiegen des magischen Wortes vor dem semantischen" in der politischen Sprache der Nazizeit habe beschreiben wollen. In dieser Sprache sei es "weniger darum gegangen, Sachverhalte zu benennen als Affekte aufzurühren". Lüddecke vertrat die Ansicht, mit dieser Reduktion auf das Sprachliche sei das eigentlich Verbrecherische am politischen System der Nazizeit unberücksichtigt geblieben.
Hartmut Behr unternahm es, den "Mythos der Nation und das Erbe des Nationalismus" als "Eigen- und Fremdkonstruktionen nationaler Zuwanderungspolitiken und ?der' EU" zu kategorisieren. Die Migrationspolitik der EU erschien Behr als regressiv, indem sie auf Ausgrenzung, Abwehr und Sicherung der Außengrenzen gegen Immigranten abgestellt sei. Durch ihre in den Schengen-Abkommen festgeschriebene Migrationspolitik versuche die EU, einen "Supra-Nationalismus" zu konstruieren und dafür auf Mythen zurückzugreifen, die der Welt der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts entlehnt seien. Darunter begriff Behr insbesondere den Mythos von der kulturellen Identität der Europäer, die es gegen Immigranten zu bewahren und zu verteidigen gelte. Statt Offenheit gegenüber "dem Fremden" konstituiere die Migrationspolitik der EU Phobien mit der Folge, dass die EU wie die neueren Nationalstaaten "einer hermetischen Undurchlässigkeit gegenüber dem Fremden" Vorschub leisteten. Nationalstaatliche Mythen seien in der EU die Vehikel, durch die "europäische Begrenzung ... als ein Gegenmodell zu globaler Migration" aufgebaut werde.
Zuletzt behandelte Clemens Kauffmann "Elemente des Mythos im politischen Liberalismus", wobei er sich insbesondere auf das Werk von Jürgen Habermas und John Rawls bezog. Ausgehend von der Habermasschen Positionierung von Rationalität "als Signatur der Moderne" referierte Kauffmann die Auffassung der Frankfurter Schule, derzufolge Mythen "innerhalb der uns zugänglichen kulturellen Überlieferungen den schärften Kontrast zu dem Weltverständnis [bilden], das in modernen Gesellschaften herrscht". Dies sei nach Habermas der Fall, da Mythen nicht der Kritik ausgesetzt werden könnten. Das rationale Weltverständnis der modernen Gesellschaften sei hingegen der Kritik unterworfen und, sofern es vor der Kritik bestehe, universalisierbar. sei der politische Liberalismus als eine in den modernen Gesellschaften gängige politische Theorie rationalitätsfeindlich. Diese These versuchte Kauffmann am Werk von John Rawls zu belegen. Rawls teile das Postulat des Vorrangs der Gerechtigkeit vor dem Guten als Kernposition des politischen Liberalismus. Diese sei aber nur zu halten, wenn man erwarte, dass "unumstrittene ?schlichte Wahrheiten' ... sich der gewachsenen politischen Kultur" verdankten, mithin einer kritischen Diskurses über Kulturgrenzen hinweg entzögen. Angesprochen werde mit dieser Position "nicht Vernunft im Sinne Habermasscher Rationalität, sondern Vernünftigkeit im Sinne des Common Sense". Damit aber genüge der politische Liberalismus "nicht den Kriterien rationaler Weltbilder."
Prof. Dr. Harald Kleinschmidt (DESK-Gastprofessor)